… nämlich, den Traum der friedlichen, sozialen, grünen Bundesrepublik. So lesen wir es bei der linken Presseagentur. Dem können wir allenfalls eine Weisheit aus noch schlimmeren Zeiten entgegenhalten:
Was wir brauchen ist Nüchternheit: Wir sollten nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und uns nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Wollens.
Antonio Gramsci
Nun ist es also Zeit, einen Traum zu begraben. Denn bevor man selbst in die Grube steigt, gehen einem erst einmal die Träume vor die Hunde.
Es gab Zeiten, die Jahrzehnte, in denen ich groß wurde gegen das Kleinmachen, da gab es immer wieder um mich herum Nachrichten von einem Deutschland, das nicht mitmachte beim Krieg. Das Volk, so schien es, hatte aus zwei Kriegen gelernt; in den einen war es mit Hurra gestürmt, in den zweiten mit einer peinlichen, gleichwohl eisernen Überzeugung, denn noch immer war es süß und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben. Aber vor Stalingrad wandelte sich die Überzeugung von einer eisernen in eine rostige und zerbröckelte endlich zu braunem Staub; erst recht in der Kriegsgefangenschaft, aus der viele nicht mehr heimkehrten.
Ein Volk war in den nationalen Geschichtsunterricht gegangen und hatte seine Lektion doppelt gelernt. Ein Traum. Alles schien gut. Die Bösen kamen in Nürnberg vors Gericht, ein paar wurden gehenkt, die meisten ließ man laufen, und die Guten waren gut. Alles schien einfach. Man zog ins Grundgesetz den Artikel 26, Absatz 1 ein, nach dem von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen durfte, wie Willy Brandt das später bezeichnete. Das Gewissen war frei und man machte sich ans Wirtschaftswunder. Zu dem natürlich auch die Herstellung von sauberen, blitzblanken Waffen gehörte, die man ohne Scham verkaufte und neuerdings wieder verkauft wie warme Semmeln. Da bekam der Traum seine ersten, bleibenden Schrunden.
Man richtete sich ein im Wohlstand, machte Kinder, kaufte Autos, Kühlschränke und Fernseher, fuhr an die Adria, flog nach Mallorca oder Florida, wurde überhaupt zum Reisevolk. Nun ging vom deutschen Boden der Umsatz aus, wir wurden Exportweltmeister und spätestens nach 1989 schien der Wohlstand für die ganze Welt nur mehr eine Frage der Zeit und unsere Zukunft schien gesichert, der Krieg und das Elend waren in eine Ferne gerückt, wohin niemand in Urlaub fuhr. Wer uns bedrohte, dem zeigten die Amerikaner schon, wo der Bartel den Most holt und wir waren fein raus. Franz Josef Strauß hatte mit Diktatoren gekungelt, aber das störte nur ein paar ewig Gestrige. Wir lieferten zwar die Panzer und Kanonen, aber das hatte mit deutschem Krieg nichts zu tun, sondern mit deutschem Wohlstand.
Um es dem Großen Bruder recht zu machen, bemühten wir uns um sprachliche Feinheiten. Die Beteiligung an Angriffskriegen war eben etwas anderes als ein von deutschem Boden ausgehender Krieg. Und wie feinsinnig doch die Argumentation einer Oberstaatsanwältin, der zufolge zwar „die Vorbereitung eines Angriffskrieges“ strafbar sei, nicht aber „der Angriffskrieg selbst“. Hier zeigte sich die Meisterschaft deutschen Denkens in militanter Vollendung. All das waren freilich Plänkeleien am Rande der deutschen Mitte und fern der Konsumschlacht, an der sich alle mit ungebrochenem Vergnügen beteiligten. Mit Krieg hatten wir nichts zu tun, den kannten wir nur vom Bildschirm, und immer noch schien alles gut, auch wenn sich der Traum abflachte.
Wir würden, so hatte mir nämlich geträumt, uns als Volk erheben, wenn uns einer wieder mit Krieg käme und mit allem, was zu seiner Vorbereitung und Machart gehört. Wir würden ihm auf die Finger klopfen, ihn, den Geschichtsvergessenen, des Amtes entheben, hinter Schloss und Riegel bringen oder ächten, auf keinen Fall wählen oder gar wiederwählen. Wir würden unsere wieder gewichtige Stimme im Chor der Völker erheben und dem Krieg endgültig und für immer die Stirn bieten. Wir würden mit all unserer deutschen, aufgeklärten Vernunft dem Frieden unsere Stimme geben; alle diplomatischen Chöre aller deutschen Botschaften der Welt würden mit eben dieser Stimme den Frieden und nichts als den Frieden fordern und für den Frieden arbeiten und man würde uns zugleich verlachen wie respektieren wegen unseres unerhörten Verständnisses von Tapferkeit.
Ja, das war mein Traum, der zu Illusionen geronnen ist. Am letzten Tag des Jahres 2022 erwachte ich daraus. Ich schlug ihn, damit er nicht endgültig verdürbe, in einen Plastikbeutel ein und packte ihn dann, so klein war er geworden, in ein von Weihnachten übriggebliebenes Metallschächtelchen. Hinterm Haus, neben dem Apfelbaum, hob ich an diesem warmen Dezembertag eine kleine Grube aus, in die ich meinen Traum neben einer toten Taube versenkte für bessere Zeiten.