Wir sind wieder dort, wo die Welt 1914 stand. Das wird schon seit geraumer Zeit gesagt und geschrieben.
Diese Wahrnehmung gründete sich auf das Zeitalter der Extreme, den Kalten Krieg, auf die kurz aufgeblühte Friedenshoffnung nach 1989, auf die seit dem geführten Kriege zur Zerschlagung Jugoslawiens, des Iraks, Libyens und auf viele andere Konflikte.
Was dieser Rückgriff auf 1914 bedeuten kann, wird uns in Mitteleuropa aber erst heute klar.
Das „Gemeinsame Europäische Haus“, von dem 1989 nicht nur Michail Gorbatschow sprach, sondern auch westliche Politiker, es wurde nie gebaut, und nun liegen auch alle Ansätze dazu in Trümmern.
Wieder sind es schlichte Großmachtinteressen, die gegeneinander stehen. Es tobt der Kampf um die (Neu-) Aufteilung der Welt. Wer den aggressiveren Part spielt, wenn das Inferno losbricht, wird in diesem Moment nebensächlich, betrachtet man die verheerenden Folgen, die die Durchsetzung dieser Interessen für die Menschen mit sich bringt, die es betrifft
Nachdem der regelbasierte Westen drei Jahrzehnte lang die Vorlagen geliefert hat, ist heute Russland der Aggressor. Überheblichkeit und die Selbsteinschätzung als beherrschendes Militärbündnis hat dazu geführt, die Aussagen eines genauso machtbesessenen und alte Größe zurücksehnenden Oligarchen über Jahre nicht ernst zu nehmen. Und das, obwohl der jetzt begonnene Versuch, die alte Vormachtstellung zurückzuerlangen, oder immerhin eine verbliebene militärstrategische Position zu halten, genau so angekündigt war. Dabei spielt für die betroffenen Menschen keine besondere Rolle, ob man das Geschehen als Wahnsinnstaten eines Kranken oder als kühl kalkulierte Schachzüge auf dem Schachbrett der Großmächte deutet.
Aber das behandeln dann später die Historiker: Im ersten Weltkrieg war Deutschland der Kriegstreiber, wie seit den Forschungen des westdeutschen Historikers Ernst Fischer allgemein bekannt ist. Der Australier Christopher Clarke bezichtigt alle europäischen Mächte gleichermaßen als „Schlafwandler“ , die dem Kriegblind Vorschub geleistet hätten – am Ergebnis ändert das dann auch nichts.
Es geht in Europa auch nicht mehr um unterschiedliche Systeme, die einander vermeintlich oder tatsächlich unter humanistischer, humanitärer oder menschheitsbefreiender Ideologie an die Gurgel gehen. Alle beteiligten Länder folgen wirtschaftsliberalen Dogmen, Oligarchen lenken Gesellschaft und Regierungen. Die einen mehr, die anderen weniger autoritär. Die einen haben ihre Trumps, Berlusconis, Orbans und Erdogans, die anderen ihre Putins und Lukaschenkas.
Alle Seiten sorgen vor, schließen die Heimatfront, dämonisieren den Feind, filtern die Nachrichten, ignorieren gegnerische Interessen – und rüsten auf.
Wenn dann der erste Schuss fällt, haben alle recht und es schon immer gesagt.
An das Leid der tatsächlich Betroffenen, der Menschen, die leben, wo plötzlich geschossen wird, denkt vorher kaum einer, der Entscheidungen trifft, und auch im Moment des Geschehens steht dieses Leid hinter dem, was als vorrangige Interessen verkauft wird. Wie ist das für die Menschen jetzt in Kiew, die noch vor einer Woche im Schein der Sonne in die Fernsehkamera gesprochen haben und sich nicht vorstellen konnten, dass ihr Leben in Freiheit plötzlich vorbei sein könnte. Dass ihr Leben und das Leben ihrer Kinder, ihrer Männer, ihrer Frauen, ihr ganzes Umfeld, das Leben, wie sie es kennen, nicht nur bedroht, sondern tatsächlich vorbei sein könnte. Vorbei wegen westlicher wie östlicher Machtphantasien und einer Geschichtsnostalgie, die Schlimmstes in Kauf nimmt.
Für die Friedensbewegung sind das schlechte Zeiten – in doppeltem Sinn. Hätte sie in besseren Zeiten die Auflösung aller Militärbündnisse durchsetzen können? Die OSZE als gemeinsames europäisches Haus? Das ist vorerst passé.
Zudem sind ist die Konstellation ungewohnt: Bislang konnten wir die boomenden Waffenexporte und völkerrechtswidrigen Kriegseinsätze der eigenen Regierung und der NATO attackieren. Nun ist der offene Krieg von Russland ausgelöst worden, und die USA und die NATO tun, als hätten sie mit all dem nichts zu tun. Da kann man leicht den Kompass aus dem Auge verlieren.
Einer, EIN EINZIGER deutscher Reichstagsabgeordneter hat 1914 dem Kaiser die Kriegskredite verweigert. Alle anderen stimmten begeistert dafür: Jeder Stoß ein Franzos‘ – jeder Schuss ein Russ‘.
Nicht viele ahnten damals wie der SPD-Abgeordnete Karl Liebknecht, was auf die Menschheit zukommen würde. Heute kennt jeder die Bilder von Verdun und Ypern, von den Gasmasken und Holzkrücken, den Schützengräben mit den Leichen und den Krüppeln.
Oder wie der französische Pazifist Jean Jaurès, der mit einer nüchtern abwägenden Betrachtung des deutsch-französischen Krieges den Hass seiner nationalistischen Landsleute auf sich zog.
Wer stimmt heute gegen die Kriegskredite, gegen die Logik des Wettrüstens, der vorgeblichen Verteidigung und der territorialen Einflussgebiete?
PS: Liebknecht und seine engste Mitstreiterin Rosa Luxemburg wurden 1919 von deutschen Soldaten heimtückisch ermordet. Die Mörder und ihre Hintermänner bereiteten bereits die Revanche für den verlorenen Krieg vor.
Jean Jaurès wurde noch am Vorabend des Krieges von einem Nationalisten in Paris erschossen. Sein Mörder Villain wurde 1919 freigesprochen.