17.05.2021 Der Sturm, den Netanjahu entfesselte

Den folgenden Artikel fanden wir auf der Website der israelischen Friedensbewegung „Gush Shalom“. Ihr Mitstreiter Adam Keller berichtet von seinen Erlebnissen aus den vergangenen Tagen und reflektiert die innenpolitische Vorgeschichte der Kämpfe.

Gestern morgen (Dienstag) wachten wir mit den Nachrichten auf, dass über 21 Palästinenser in Gaza getötet worden waren, darunter neun Minderjährige, dazu zwei getötete israelische Frauen in Ashkelon (wie sich später herausstellte war eine davon eine Arbeitsmigrantin aus Indien, und seitdem hat sich die Zahl der Opfer auf beiden Seiten mehr als verdoppelt).

Dann kam die eMail, die ich erwartet hatte.

Noa Levy von Hadash (der „Front für Frieden und Gleichberechtigung“, Anm. d. Übers.) sandte den dringenden Aufruf zu spontanen Protesten in Tel Aviv und Jerusalem. Eine zweite Nachricht vom „Forum der israelischen und palästinensischen Hinterbliebenen-Familien und Friedenskämpfer“ unterstützte den Hadash-Aufruf und fügte einen für Haifa hinzu, den das „Haifa Frauen-für-Frauen-Zentrum“ initiiert hatte:

„Die Regierung spielt mit dem Feuer – wir werden alle verbrennen! In dem verzweifelten Versuch, an der Macht zu bleiben, zerrt uns Netanjahu in den Krieg, in Töten und Leiden und Schmerz für beide Völker. Stoppt die Eskalation! Stellt das Feuer ein! Stoppt die Vertreibung von Familien aus Sheik Jarrah, stoppt die polizeilichen Ausschreitungen in Ost-Jerusalem. Es kann keinen Frieden geben und keine Ruhe, solange die West Bank unter der Besatzung lebt und Gaza unter der Belagerung leidet. Die Lösung: Ein Ende der Besatzung, ein Ende der Belagerung, und ein palästinensischer Staat an der Seite von Israel, mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt. Wir alle haben es verdient, in Freiheit und Sicherheit zu leben. Jetzt ist die Zeit zu handeln!“

Und so gab es einige Stunden hektischer Arbeit an Computer und Handy, um diese Botschaft über Facebook und Whatsapp an alle zu verbreiten, die an diesem Tag auf eine solche Nachricht warteten. Dann in den Bus nach Tel Aviv. Der Kugel Boulevard, Durchgangsstraße in Holon (Vorort von Tel Aviv, Anm. Übers.) für alle Busse nach Tel Aviv, war in der üblichen Alltagshektik. In der King George-Straße in Tel Aviv hatten sich bereits einige hundert Leute vor der Likud-Zentrale versammelt. Unter ihnen bekannte Gesichter, die entschlossene Minderheit von Israelis, die an solchen Tagen immer da sind, wie schon 2014, 2009 …. „Stellt das Feuer ein, stoppt das Blutvergießen!“ skandierten hunderte Kehlen. Und: „Auf beiden Seiten der Grenze / wollen Kinder leben!“ und „Sheik Jarrah, verzweifle nicht / wir werden die Besatzung noch beenden!“ und dann noch „Gaza, Gaza, verzweifle nicht / wir werden die Belagerung noch beenden!“ und „Netanjahu, Netanjahu / das Gericht in Den Hag wartet auf dich!“

Auseinandergehen – mit einem vagen Gefühl von Frustration. Aber was hätten wir noch mehr tun können? Vielleicht wären wir zufriedener gewesen, wären wir gewaltsam auseinander getrieben worden und hätten eine Nacht in Haft verbracht – aber hier behinderte die Polizei, anders als anderswo, die Demonstranten nicht. Nur zwei gelangweilte Beamte beobachteten das Geschehen von der Seite. Unser Lieblingsveganer war in der Nähe, also kehrten wir dort ein. Alles war wie an jedem anderen Abend in Tel Aviv, es kam uns etwas seltsam vor, das alltägliche Leben weiterzuführen, während anderswo furchtbare Dinge geschehen.

Die Sirenen heulten auf, als wir gerade die Rechnung beglichen und uns auf den Weg gemacht hatten. Wir betraten eine nahe gelegene große Apotheke. Die Belegschaft agierte ruhig und zielsicher – „Hier entlang, nach links, dort ist die Kellertreppe“ Rund hundert Leute – Belegschaft, Kunden, und wer gerade auf der Straße war – strömten herein. Auch im Keller hörten wir deutlich die Explosionen im Luftraum. „Sind das die Raketen oder unsere Abwehrwaffen?“ überlegte eine alte Frau. Eine andere alte Frau meinte: „Keine Sorge meine Liebe, wenn es so weitergeht, werden wir alle noch lernen, was das eine und was das andere ist.“

Nach einer Viertelstunde dachten wir, es sei vorbei und alle erhoben sich und zogen auf der Straße weiter – und dann ertönten die Sirenen erneut. Diesmal gingen wir in den Keller eines Privathauses mit sehr netten jungen Leuten, die uns anboten, über Nacht zu bleiben. „Ihr könnt hier bleiben, kein Grund, rauszugehen und etwas zu riskieren, wir haben noch freie Betten.“

Ich muss gestehen, dass es mir bis dahin ein bisschen wie ein Spiel vorkam. Jetzt ist mir klar, dass wir die arrogante Illusion der meisten Israelis teilten, dass die Geschosse des Iron Dome uns geradezu vollständig schützen würden. Aber als wir im zweiten Keller des Abends zusammenhockten, klingelte das Telefon: „Bist du ok? Gut, Deine Stimme zu hören, ich habe von dem abgebrannten Bus in Holon gehört, ich war so in Sorge!“ – „Ich bin in Tel Aviv, welcher Bus ist das?“ Ein schneller Blick in die Nachrichten zeigte den Kugel Boulevard, wo wir nur drei Stunden vorher vorbeigekommen waren. Es war ein Kriegsschauplatz, Flammen und zerstreute Trümmer überall und das Skelett eines vollständig ausgebrannten Busses mittendrin. Es wurde berichtet, dass der Fahrer den Alarm hörte, anhielt und alle zur Flucht aufforderte – nur eine Minute, bevor der Bus getroffen wurde.

Vielleicht hätten wir doch das Angebot der jungen Leute annehmen und bei ihnen übernachten sollen. Der Nachhauseweg war ein langes und anstrengendes Unterfangen. Die Hauptstraßen waren von der Polizei gesperrt und wir sahen Notarztwagen und Feuerwehrautos im Einsatz. Der Bus aus Tel Aviv setze uns weit von zuhause ab, es waren in ganz Holon keine Taxis zu bekommen, und so war es ein langer und beschwerlicher Weg durch dunkle, verlassene Straßen.

Zuhause hatte ich eine Whatsapp-Konversation mit einer alten Freundin. „Bleib wachsam, diese Nacht ist noch nicht vorbei“, schrieb sie. „Die Regierung besteht auf einer harten Vergeltung für den Angriff auf Tel Aviv, und die Palästinenser werden die Vergeltung ihrerseits vergelten wollen.“ Sie hatte vollkommen Recht. Nach 15 Uhr gab es eine ganze Serie von Alarmen, einen nach dem anderen. Die Explosionen klangen eher verschwommen und wirkten, als seien sie weit entfernt. Diesmal zielten sie auf den Ben-Gurion-Flughafen.

Eines der Geschosse war in eine Hütte in Lod (Lydda) eingeschlagen und hatte einen fünfzigjährigen Mann und seine jugendliche Tochter getötet. Später stellte sich heraus, dass sie Araber waren, die in einer inoffiziellen Siedlung ohne Baugenehmigung lebten, was sie davon abgehalten hatte, in stabilerer Bauweise zu bauen, was ihr Leben hätte retten können.

Und da stehen wir jetzt, mit dem eskalierenden Konflikt und der immer schneller steigenden Zahl der Todesopfer. Und ich sollte, wenigstens kurz, zusammenfassen, wie es dazu kam.

Letzten Freitag – vor gerade mal fünf Tagen, obwohl es wie eine Ewigkeit scheint – war die öffentliche Aufmerksamkeit in Israel komplett auf die vertrackte Parteipolitik gerichtet. Premierminister Netanjahu war, angesichts dreier schwerer Korruptionsklagen vor dem Jerusalemer Bezirksgericht, mit seinen Bemühungen zur Kabinettsbildung gescheitert. Das Mandat ging an den oppositionellen „Block der Veränderung“, dessen Anführer schwierige Verhandlungen aufnahmen, um ein heterogenes Kabinett aus Rechten, Linken und der Mitte zu gründen, die nichts miteinander gemein haben außer dem Wunsch, Netanjahus Abgang zu erleben. Wir sahen das mit gemischten Gefühlen, insbesondere, da der geplante neue Premierminister Naftali Bennet, wenn irgendetwas, dann noch weiter rechts ist als Netanjahu. Immerhin würde die neue Regierung durch gegenseitiges Veto Bennet daran hindern, allzu viel Schaden anzurichten – dasselbe würde die neue Regierung aber auch davon abhalten, viel Gutes zu tun. Und diese Regierung wäre die allererste in der israelischen Geschichte, die von einer arabischen Partei abhängig wäre, um eine parlamentarische Mehrheit zu erlangen (anders als die Regierung Rabins 1995, deren Amtszeit durch den Mord am Premierminister abgebrochen wurde).

Jedenfalls gab es feste Pläne, das neue Kabinett für die parlamentarische Bestätigung am 11.Mai stehen zu haben. Die Anti-Korruptions-Demonstranten, die jede Woche vor der Residenz des Premierministers protestierten, machten schon Scherze, wann die Spediteure auftauchen würden, um das Mobiliar der Familie Netanjahu abzuholen. Aber Netanjahu hatte noch andere Eisen im Feuer.

Zuerst war da die geplante Vertreibung hunderter Palästinenser aus ihrem Zuhause in der Sheikh Jarrach-Siedlung in Ost-Jerusalem. Dutzende von ihnen wurden innerhalb von Tagen ausgeräumt und Siedler der extremen Rechten gingen daran, die freigewordenen Wohnungen zu beziehen. Proteste hiergegen in Sheik Jarrach und anderswo in Jerusalem sahen sich brutaler Repression durch die Polizei gegenüber.

Sodann weiteten sich die Proteste auf den Haram A Sharif (Tempelberg) aus, und ebenso die polizeiliche Unterdrückung. Die Polizei begann, den Demonstranten gezielt Gummigeschosse ins Gesicht zu schießen – mindestens zwei von ihnen verloren beide Augen und sind für den Rest ihres Lebens blind. Videoaufnahmen der Polizei beim Eindringen in die Al-Aqsa-Moschee, dem dritthöchsten Heiligtum des Islam und auch für nicht-gläubige Palästinenser bedeutender Teil ihres Nationalerbes, verbreiteten sich in den sozialen Netzwerken und steigerten die Proteste.

Schließlich gab es dann noch den Plan, dass tausende radikaler junger Siedler im provozierenden „Dance of the Flags“ (Tanz der Flaggen) ausgerechnet durch das Damaskustor und das muslimische Viertel Alt-Jerusalems ziehen, während sie ihrer gewohnten rassistischen Parolen skandieren. Die Polizei und Regierung bestätigten Stunde um Stunde, dass der „Tanz der Flaggen“ wie geplant stattfinden werde.

Das war der Zeitpunkt, ab dem Hamas in Gaza drohte, die Angriffe auf die Palästinenser in Jerusalem zu vergelten, und die Regierung erklärte, sie werde sich Ultimaten von Terroristen nicht beugen. Im letzten Moment wurde der „Tanz der Flaggen“ abgesagt – aber es war zu spät. Um 18 Uhr dann die Salve aus sieben Hamas-Raketen am Rand von Jerusalem – die in der Tat keinen Schaden anrichtete, die aber die tödliche israelische Vergeltung auf Gaza auslöste.

Und nun, wenig mehr als 48 Stunden danach, sind wir mitten in einem eskalierenden Krieg, die israelische Luftwaffe zerstört Hochhäuser in Gaza und verkündet stolz die „Eliminierung“ höherer Hamas-Führer, ist aber nicht in der Lage, die Palästinenser an der Fortsetzung ihrer Raketenangriffe zu hindern. Und die Beziehungen zwischen Juden und Arabern, beides Mitbürger im Staat Israel, sind in ungekannte Abgründe gegenseitiger Gewalt gestürzt. In Lod verkündete die Polizei eine nächtliche Ausgangssperre, um die aufrührerischen Araber zu stoppen, aber die Araber weigern sich, diese einzuhalten und liefern sich gewaltsame Auseinandersetzungen in der Nähe der örtlichen Moschee. Und in Bat Yam greifen Mobs extrem rechter Juden wahllos Araber an und zerstören arabische Läden. Und immer wieder wird in den Medien die strikte Weigerung der Regierung wiederholt, einen Waffenstillstand zu schließen. „Nein, nein, keinen Waffenstillstand – wir müssen Hamas eine Lektion erteilen!“

Natürlich keinen Waffenstillstand. Warum sollte Netanjahu einen Waffenstillstand wollen?

Jeder Tag, an dem die Gefechte weitergehen, ist einer mehr, an dem die Spediteure von der Residenz des Premierministers ferngehalten werden, ist ein Tag mehr, an dem er die Macht in der Hand behält. Gäbe es einen konkreten Beweis dafür, dass Netanjahu das alles bewusst und absichtlich getan hat, würde das Anklagen für Verbrechen ermöglichen, die weitaus schwerwiegender wären als die, denen er sich am Bezirksgericht in Jerusalem gegenübersieht. Aber jeglicher Beweis dafür ist wahrscheinlich streng geheim und würde erst in fünfzig Jahren veröffentlicht werden. Somit können wir nicht beweisen, dass er es vorsätzlich getan hat, auch wenn es kaum Zweifel daran gibt. Wir können nur den Krieg beenden und ihn (Netanjahu, Anm. Übers.) sofort danach loswerden.

Vielleicht werden die Geschehnisse Präsident Biden aus seiner Position bringen, sich in die Angelegenheiten Israels und der Palästinenser nicht einzumischen. Letztlich ist ihm dieser ganze Schlamassel mit lautem Krach vor die Füße gefallen.

Adam Keller, 12. Mai 2021 22:00 Uhr

Übersetzung aus dem Englischen von Courage. Originaltext unter:
http://zope.gush-shalom.org/home/en/events/1464389870

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