Diese Gedanken und Erinnerungen an seinen Großvater und an den 22. Juni 1941 hat unser Freund Mario Gesiarz 2011 und 2024 anläßlich des hierzulande regelmäßig unter den Tisch gekehrten Jahrestags niedergeschrieben. Der „größte Gewaltexzess in der modernen Menschheitsgeschichte“ (Wolfram Wette), verübt von der deutschen Wehrmacht, stört auch das Bild vom bösen Russen.
Ein ganz normaler Tag
Es wird ein ganz normaler Tag werden, der 22. Juni 2011. Wie vor 70 Jahren. In der kleinen Wohnsiedlung „Engelsruhe“ im Frankfurter Stadtteil Unterliederbach. Der Alltag wird zu hören sein, wie damals: Vielleicht gab es da etwas mehr Hundegebell, der ein oder andere Hahn der krähte. Autos gehörten kaum dazu, eher Fahrräder. Essensduft liegt in der Luft. Dieselbe Sonne wird scheinen, hinter Wolken oder ohne, am selben Himmel. Die Männer gingen auf die Arbeit, die Kinder zur Schule. Nachbarn grüßten sich, redeten miteinander, etwas mehr wie heute. Man ging in den Garten und schaute nach den Gemüsebeeten, holte etwas zum Mittagessen. Richard, mein Großvater, war seit gut einem Jahr wieder aus dem Zuchthaus zurück.
Vier Jahre verbüßte er wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ in Limburg-Dietz und Butzbach. Hochverrat, so nannte man es, wenn Menschen nicht beim großen Haufen mitlaufen wollten, wenn sie Hitler als „Daachdieb“ betrachteten und nicht wollten, dass Menschen im Krieg aufeinander gehetzt werden.
Jetzt saß der schmächtige Mittdreißiger blass und gebrechlich zu Hause, im Chattenweg, am Küchentisch, aß die dicke kräftige Erbsensuppe und hustete gotterbärmlich. Und schwieg vor sich hin. Es ging ihm nicht gut. Das Husten und auch das Schweigen waren die Folgen der langen Haftzeit.
Zerbrochen
Arbeit gab es keine, schon gar nicht für Leute wie ihn. Ein blauer Ausweis bezeichnete ihn als „Wehrunwürdig“. Er hatte das Recht verwirkt, sich für „Volk und Vaterland“ totschießen lassen zu dürfen. Welch kuriose Strafe! Und welch eine heroische Auszeichnung. Ein Dokument des kleinen, bescheidenen und doch so großen aufrechten Gangs eines ganz normalen Schlossers. Aber es hatte auch seinen Preis. Vier Jahre seines Lebens hatte er dafür hergeben müssen. Vier Jahre Knast – damals nannte man es Zuchthaus. Nicht mitgerechnet die Erniedrigungen die er erleiden musste, in den Verhören, beim Prozess. Es war etwas in ihm zerbrochen. Es sollte ihn bis zu seinem Tod begleiten, er sollte nie mehr richtig auf die Beine kommen. Er wird nie darüber reden.
Im April 1936 hatten sie ihn und fast hundert gleichgesinnte aller Couleur verhaftet. Auf der Engelsruhe war es in diesen Tagen hoch her gegangen: Gebrüll, geborstene Türen, Hausdurchsuchungen, Verhaftungen. Aber sonst hatte sich kaum jemand gerührt. Macht man doch nicht. Gegen den Führer und seine Partei sein. So mancher der sich nun empörte, hatte erst vor kurzem seine Farbe von rot auf braun gewechselt. Menschen mit der Grundfarbe „durchsichtig“. Jetzt, am Küchentisch, waren die Haftfolgen recht deutlich spürbar, der Husten, die Auswürfe. Dennoch, die Erkrankung rettete ihm wahrscheinlich das Leben, denn es bewahrte ihn vor dem Strafbataillon 999. Aber das kam erst wenige Wochen später, nach diesem 22. Juni.
Er wirkte sehr zerbrechlich wie er so da saß und die Suppe löffelte. Seine Frau Hilde, die kleine resolute Person, hatte einen Tender voll aus der Volksküche mitgebracht. Die wohlgesonnene Küchenleiterin hatte es ihr in die Hand gedrückt. Sie arbeitete dort seit einiger Zeit um wenigstens etwas Geld zur Verfügung zu haben. Für sich, die kleine Tochter und den gezeichneten Rückkehrer aus dem Zuchthaus.
Es sollte ein ganz normaler Tag werden. Aber fern im Osten, viele hundert Kilometer entfernt, begann zur gleichen Zeit die Aktion „Barbarossa“, der Überfall auf die Sowjetunion. Das, was Richard, seine Hilde und viele andere in der Familie verhindern wollten. Der Schwager Karl, der, 1941, noch ein fünftes Jahr abzusitzen hatte, dann ins Moor und bis zum Kriegsende nach Dachau geschleppt werden sollte. Dessen jüngerer Bruder Friedrich, der 1934 ins Saargebiet floh, im Oktober 36 zum Thälmann-Bataillon kam und schon im Juli 1937 in der Nähe von Madrid sein Leben lassen musste. Aber das sollte erst sehr viel später bekannt werden. Das, was sie und einige andere verhindern wollten, hatte nun begonnen. Der volle brutale Krieg.
Siebzig Jahre später
Siebzig Jahre später, sollte dieser 22. Juni ebenfalls ein ganz normaler Tag werden. Eigentlich ein zu normaler. Denn kaum jemand wird an die Ereignisse vor 70 Jahren erinnern. Man wird weitgehend übersehen, dass alleine das überfallene Land 27 Millionen Menschenopfer zu beklagen hatte. Man wird unerwähnt lassen, dass diese Opfer dazu beitrugen, Europa und die Welt vom deutschen Faschismus zu befreien. Sollte der Krieg und dessen Ende dann im Seifenfernsehen doch einmal Erwähnung finden, ist es keine Seltenheit, dass dort die Befreiung erst mit der US-Invasion 1944, dem D-Day, einsetzt. Welch freche Geschichtsklitterung. Welch neuer Verrat an den Opfern.
Zu spät kommt mir in den Sinn, dieses Ereignis irgendwie öffentlich zu würdigen, zu begehen. Nun, dann schreibe ich halt diesen kleinen Text, den ich dann einigen Menschen schicken werde. Menschen aus dem Stadtteil, mit denen ich schon seit Jahren das Gedenken an andere Opfer aufrecht erhalte. Unsere Initiative „9. November 1938“ arbeitet seit über 30 Jahren zu diesem Thema, macht Lesungen und andere Veranstaltungen, forscht in der Nachbarschaft, sorgt für würdiges Gedenken am Ort der ehemaligen Synagoge, verlegt Stolpersteine. Mehr als einmal wurde beim Vorbereiten der Gedenkveranstaltung zum 9. November die Frage gestellt: Warum haben so wenige gegen die Nazi-Gewalt protestiert und sich gewehrt? Diese Frage haben sich meine Altvorderen auch gestellt, als zwei Jahre zuvor die Polizei in die Wohnungen und Häuser einbrach und Verhaftungen vornahm.
Nur noch Jubel
Als dann wenige Jahre später der Ostfeldzug begann, gab es scheinbar nur noch Jubel. Wer sollte jetzt noch protestieren? Die jüdischen Mitbürger waren in die KZs deportiert, auch wenn einige davon gern im Osten mit marschiert wären. Die Antifaschisten waren verhaftet, im Zuchthaus, zerbrochen und mundtot gemacht, auch wenn einige davon durchaus nichts gegen die Judenverfolgung gesagt hätten.
Die jährlichen Gedenkveranstaltungen am Platz der ehemaligen Synagoge ist mehr als nur das Gedenken an die Pogrome. Sie ist für mich, und ich bin fest davon überzeugt, für die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer, vielmehr ein Symbol des Gedenkens an alle Opfer des Nationalsozialismus. Ein Gedenken an die viel zu schwachen Proteste dagegen, ein Gedenken an die durchaus vorhandenen kleinen Widerstandshandlungen im braunen Alltag.
Und genau deshalb sollte der 22. Juni nicht in Vergessenheit geraten. Er gehört dazu, denn er war eine weitere Stufe auf der Höllenleiter der Nazi. Aber er war auch der Anfang vom Ende. Denn es waren die Menschen der Sowjetunion die 1942 mit der Zerschlagung der Moskauer Belagerung den Eroberungsfeldzug der Deutschen stoppten und in vier weiteren blutigen Jahren die Befreiung und schließlich das Kriegsende am 8. Mai 1945 ermöglichten.
Dessen sollten wir stets gedenken, eben allen Opfern des Nationalsozialismus.
© Gesiarz 6-2011
Notwendiger Nachtrag im Mai 2024:
Seit Februar 2022 herrscht ein Krieg der scheinbar alle Lebensbereiche beeinflusst: Russland hat die Ukraine überfallen. Russlands Führung und sein Präsident begehen ein Verbrechen. Ein Verbrechen gegen ein Land, in dem schon seit vielen Jahren brutales Unrecht geschieht, in dem viel in Unordnung ist, Korruption herrscht und auch Hass, die russische Sprache verboten wurde.
Es gibt also eine Vorgeschichte zu diesem Krieg. Aber das macht es um kein Jota besser – ein Krieg ist ein Krieg, ist ein Krieg! Wer ihn beginnt ist ein Verbrecher – wer ihn nicht beenden will auch!
Die Menschen, die darunter auf allen Seiten leiden, Verlust, Angst und Schmerz ertragen, haben mein tiefes Mitgefühl. Das gilt für die Sowjetmenschen die den deutschen Faschismus blutig niederrangen. Das gilt heute für die Menschen in der Ukraine, in Gaza, im Jemen, in Afrika und allen anderen gewalttätigen Orten dieser Erde.
Doch es erschreckt mich, wie leicht bei uns die alten Ressentiments gegen Russland mobilisiert werden. Wie schnell „der Russe“ wieder an vielem Schuld ist:
Schon sind wieder deutsche Soldaten an der russischen Grenze stationiert. Schon fordern Hasardeure in der CDU und bei den Grünen Bombenangriffe auf Russland und Moskau. Bei einer Feier zum Tag des Sieges wurden Fahnen der Sowjetunion verboten, wurden Zeitungen die Fotos mit der Fahne der Befreier zeigten, von der Polizei konfisziert! Mir wird speiübel! Es sollte uns klar sein: Kriege sind die unmenschlichste Ausgeburt des kapitalistischen Systems. Es sind kapitalistische Imperien und ihre Interessen die brutal aufeinander einschlagen, für Profit, Macht und Einfluss auf die Menschen nehmen sie keinerlei Rücksicht. Das war früher so, das ist heute so.
Müßig sind die Debatten, ob wir mehr oder weniger Pazifismus brauchen. Was wir brauchen, sind konsequente Antimilitaristen. Menschen, die sich gegen jegliche militärische Bewaffnung stellen, die der Rüstungsindustrie und ihren willfährigen Dienern in Politik und Gesellschaft in die Arme fallen. Dem Ruf nach Wehrertüchtigung und noch mehr Waffenlieferungen müssen wir deutlich widersprechen. Wer das nicht tut, macht sich schuldig! Dabei ist es so einfach etwas dagegen zu tun: Reinhard May sang in den 80er Jahren „meine Söhne geb‘ ich nicht“. Ein Lied, dass mich heute tief berührt. Es berührt mich deshalb, weil es inzwischen meinen Enkel gibt. Und vielleicht erlebt ja er, was mir scheinbar verwehrt wird: Eine Welt die etwas besser, etwas friedlicher und etwas lebenswerter ist. Das war mein Traum „Meine Söhne geb‘ ich nicht“ – würden das alle sagen, wäre schon viel erreicht.
MG, Mai 2024