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BERLIN (Eigener Bericht) – Berliner Regierungsberater und Außenpolitikexperten fordern von der nächsten Bundesregierung eine massive Aufstockung des Militärhaushalts, drastische Einschnitte bei den Sozialausgaben und eine energische Indoktrination („Mentalitätswandel“) der Bevölkerung. Die Forderungen finden sich in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Internationale Politik (IP), die von der einflussreichen Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) herausgegeben wird. Titelthema der Ausgabe ist die Frage, „was die Welt von Deutschland nach der Wahl erwartet“. In den Beiträgen heißt es etwa, die nächste Regierung müsse die deutsche Bevölkerung darauf vorbereiten, „dass Deutschland zur europäischen Führungsmacht wird, diplomatisch und militärisch“. Dazu gelte es „die Zeitenwende in den Köpfen zu verankern“. Ein Professor der Münchner Bundeswehr-Universität schlägt die Einführung eines „Verteidigungs-Soli“ von einem bis 1,5 Prozent der Einkommensteuer vor und droht, rüste Berlin die Bundeswehr nicht ausreichend auf, werde „Deutschlands Einfluss“ in der internationalen Politik „dauerhaft sinken“. Ein anderer Autor warnt, ein Zerfall der EU sei erstmals seit den 1950er Jahren ein „realistisches Szenario“.
Wie es in der aktuellen Ausgabe der IP heißt, ist die EU schon seit geraumer Zeit von einem „schleichenden Verfall“ geprägt. Dafür gebe es verschiedene Ursachen, urteilt der DGAP-Experte Josef Janning, der sich schon seit Jahrzehnten mit der EU befasst. Eine der Ursachen bestehe darin, dass schon im Alltag, insbesondere aber in „Verteilungskonflikten und Krisen“ die „Folgen supranationaler Politikverflechtung spürbar“ würden.[1] Diese sind vor allem für schwächere Mitgliedstaaten und für Bevölkerungsgruppen, die nicht den nationalen Eliten angehören, oft negativ. Das habe dazu beigetragen, dass häufig „rechtsnationale Strömungen und Parteien ... an Gewicht“ gewonnen hätten, schreibt Janning. Zugleich sei festzustellen, dass „spätestens mit dem Scheitern des Verfassungsvertrags von 2004“ das Ziel einer „immer engeren Union der Völker Europas“ aus der realen Politik verschwunden sei und allenfalls noch in „Festakten ... und Koalitionsverträgen“ beschworen werde. Verliere man aber das große Ziel aus den Augen, könnten auch „die kleinen Schritte“ nicht mehr „verstanden und vermittelt“ werden. Es komme hinzu, dass – wohl wegen gesteigerter Interessensdivergenzen – keine strategisch orientierten „Koalitionen unter Mitgliedstaaten“ mehr bestünden. Nicht zuletzt hätten die USA unter Trump ihr Interesse an einem „stabilen“ und „kooperativen Europa“ verloren.
Janning konstatiert, „politische Gebilde“ wie die EU könnten zwar „institutionell weiter bestehen“, zugleich aber „ihre Bedeutung und Bindekraft ... verlieren“.[2] Büßten sie dabei ihre Fähigkeit zur „Weiterentwicklung“ oder gar zum aktiven Handeln ein, dann drohten sie „obsolet“ zu werden. Zunehmend seien nationale Alleingänge zu erwarten. „Wenn diese Tendenzen die erste Säule der EU erreichen“, fährt Janning fort, „den Binnenmarkt und die gemeinsame Währung“, „dann zerreißt die Union“ in „einer Fülle“ innerer Konflikte. „Zu keiner Zeit seit den 1950er Jahren“ sei „die zentrifugale Dynamik stärker und sichtbarer als in der gegenwärtigen Lage“ gewesen: „Während Institutionen und Abläufe funktionieren wie gewohnt, erodiert die Substanz der Integration unter der Oberfläche.“ „Zum ersten Mal“ erscheine gegenwärtig „ein Scheitern und Zerfall der Europäischen Union als realistisches Szenario“. Auf der Suche nach „Wege[n] aus der Erosion“ kommt der DGAP-Experte zu dem Ergebnis: „Die EU braucht einen Aufbruch zur politischen Union, braucht strategisches Denken.“ Das schließe „die Frage einer gemeinsamen Verteidigung ein“. Janning gibt sich zudem überzeugt: „Vieles, wenn nicht alles hängt dabei von Deutschland ab“ – der ökonomisch stärksten Macht im Zentrum Europas.
Dringt Janning darauf, zur Rettung der EU die „Frage einer gemeinsamen Verteidigung“ zu thematisieren, so fordert Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München, von der künftigen Bundesregierung die „Einsicht, dass Deutschland das Fundament seiner Sicherheits- und Verteidigungspolitik erneuern muss“ – „und das ist nun mal eine kriegsfähige Bundeswehr“.[3] Erforderlich sei „eine substanzielle Erhöhung“ des Militärhaushalts; Masala bringt unter anderem „einen Solidaritätszuschlag für Verteidigung“ ins Gespräch, „der von allen Menschen entrichtet werden muss, die in Deutschland arbeiten“, etwa in Höhe von „1 bis 1,5 Prozent der Einkommensteuer“. Davon abgesehen hält Masala eine deutliche personelle Aufstockung der Bundeswehr für zwingend, umso mehr, als „in den nächsten Jahren eine überproportional große Pensionierungswelle“ bevorstehe. Ein internes Papier des Verteidigungsministeriums habe schon vor geraumer Zeit eine Personalerhöhung von aktuell gut 180.000 auf „bis zu 440.000 Soldaten“ erwogen. Allerdings lege der 2+4-Vertrag eine Obergrenze von 350.000 fest. Davon unabhängig werde man nicht nur über eine Rückkehr zur Wehrpflicht nachdenken müssen, sondern etwa auch über eine Grundgesetzänderung zur Ausweitung der Wehrpflicht auf Frauen.
Für massive Aufrüstung spricht sich in der IP zudem Jan Techau aus, Director Europe der Eurasia Group in Berlin. Laut Techau muss die nächste Bundesregierung „die Deutschen, die Berliner Blase und sich selbst darauf vorbereiten, ... dass Deutschland zur europäischen Führungsmacht wird, diplomatisch und militärisch“.[4] Der „Lernprozess, der zur Annahme dieser Rolle führ[e]“, werde „erheblich dadurch erschwert“, dass „das alles sehr, sehr teuer“ sei. Der nächste Bundeskanzler werde „dramatische Haushaltsentscheidungen treffen und rechtfertigen müssen“. Techau konstatiert, das sei „allen Beteiligten klar“; es habe allerdings „niemand vor der Wahl dabei erwischt werden“ wollen, „die Wahrheit“ darüber zu sagen. Nun gelte es, Konservative „auf neue Schulden“, Linke „auf schmerzhafte Strukturreformen“ vorzubereiten: „Sonst drohen Widerstand und Blockade“. Als „eigentliche Aufgabe der kommenden Regierung“ aber begreift Techau es, die Bevölkerung darauf einzustimmen, dass Berlin in nächster Zeit „zu manch unerhörter Entscheidung gezwungen sein“ werde. Was damit über immense Kosten für Waffen und weiteres Kriegsgerät hinaus gemeint ist, erläutert der Autor nicht. Er hält es aber für notwendig, einen „Mentalitätswandel, die Zeitenwende in den Köpfen zu verankern“.
Ratschläge dazu gibt unter anderem Ulrike Esther Franke vom European Council on Foreign Relations (ECFR). Franke kritisiert, die deutsche Debatte über „militärische Fragen“ sei zum einen „moralisch aufgeladen“; Militärexperten seien mit einem „erhebliche[n] Misstrauen“ konfrontiert. Das trage „nicht zu einem besseren Diskussionsklima bei“.[5] Zudem sei die Debatte über Krieg in der Bundesrepublik „angstgetrieben“. Auch dies sei der Befassung mit künftigen „Gefahren“ abträglich. Franke urteilt, der Ukraine-Krieg schaffe „ein Zeitfenster ... in der Bereitschaft, sich mit Verteidigung und Militär auseinanderzusetzen“; das müsse „die nächste Regierung nutzen, um wichtige Weichen zu stellen, bevor die Stimmung umschlägt“: „Jetzt ist der Moment für politische Führung.“
[1], [2] Josef Janning: Scheitert Europa? In: Internationale Politik März/April 2025. S. 72-79.
[3] Carlo Masala: Kein Geld, kein Personal, keine Sicherheit. In: Internationale Politik März/April 2025. S. 24-27.
[4] Jan Techau: Die Realität ist schmerzhaft, aber zumutbar. In: Internationale Politik März/April 2025. S. 18-23.
[5] Ulrike Esther Franke: Von Kriegen, Ängsten und gefährlichem Halbwissen. In: Internationale Politik März/April 2025. S. 106-111.