Sind wir noch bei Sinnen?

Der Sommer 1936 soll sehr schön gewesen sein. Es gibt tolle Bilder von Berlinern, die ihre Freizeit am Wannsee verbringen. Filme aus dieser Zeit zeigen Menschen, die sich den Besuch der Straßencafés am Kudamm gönnen. Es sind friedliche Bilder nach den vorausgegangenen internationalen Spannungen um die Tschechoslowakei. Sechs Jahre später zeigen die Fotos aus vielen deutschen Städten vor allem Ruinen.

Seit Jahren nehmen die internationalen Spannungen dramatisch zu. Es geht schon lange nicht mehr nur um eine abstrakte Kriegsgefahr – nein, es geht um realen Krieg – und nicht nur irgendwo an der Peripherie. Der Krieg wütet schon in gefährlicher Nähe – und die Bundesrepublik ist längst keine außenstehende Partei mehr.

Wird die damit verbundene Gefahr angemessen wahrgenommen? Glaubt man den Politikern und den großen Medien, so haben wir nichts zu befürchten – schon gar nicht irgendwelche negativen Konsequenzen aus dem Handeln der Politik. Die einzige Voraussetzung ist, dass wir in Zukunft jede zwanzigste Mark in die Aufrüstung stecken. Denn der „Russe“ ist zwar einerseits uns technologisch und wirtschaftlich unterlegen, durch den Krieg in der Ukraine geschwächt, ja, er steht kurz vor dem „Ruin“ (Baerbock).

Andererseits ist er die riesengroße, schreckerregende Gefahr und ist nur darauf aus, uns in zwei, fünf, zehn oder zwanzig Jahren zu überfallen und zu knechten. Warum er das tun sollte? Weil er unsere Freiheit (die wir zur Abwehr der drohenden Gefahr natürlich einschränken müssen) hasst und unseren Wohlstand (den wir durch Zerstörung von Handelsbeziehungen und Ausgaben für Rüstung nicht mehr bewahren können) stehlen will. Deshalb wird Russland „immer unser Feind“ bleiben (Kiesewetter).

Solchen Feinden muss man nur machtvoll entgegentreten. Dazu kann man einer Atommacht schon mal Ultimaten stellen und mit der Lieferung von Waffen drohen, die – dank Daten und Know-how der Bundeswehr – auch den Kreml treffen können (Merz). Uns kann ob solcher Drohungen nichts passieren. Einen Teil unserer Abwehrwaffen haben wir schon an die Ukraine geliefert, die uns damit sicher beschützen wird – oder vielleicht doch nicht? Aber unsere Politiker sagen, dass die Ukraine uns verteidigt und, solange der Krieg in der Ukraine währt, uns Russland nicht angreifen wird. Möchten diese Politiker den Krieg dort bis in Ewigkeit fortsetzen, oder besteht die vorgebliche Gefahr vielleicht gar nicht? Eines scheint sicher: Dieser Krieg kostet – völlig überflüssigerweise – Ukrainer und Russen mittlerweile Hunderttausende von Menschenleben, uns Deutschen Milliarden Euro – und bietet ein gefährliches Eskalationspotential, das Europa in den Abgrund reißen kann.

Wie formulierte einst Goethe:

Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
wenn hinten, weit, in der Türkei,
die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus,
sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten;
dann kehrt man abends froh nach Haus
und segnet Fried und Friedenszeiten.

Müssen wir uns also auch vor dem Krieg im „Nahen Osten“ nicht fürchten? Warum muss Israel, warum müssen die USA den Iran angreifen, wenn keine Gefahr besteht, dass dieser schmerzlich zurück schlägt? Zwei Atommächte gegen einen Staat, der seit über zwanzig Jahren stets einige Monate (oder Jahre) vor der Herstellung einer eigenen Nuklearwaffe steht. Geht es nur darum, die Einhaltung des Atomwaffensperrvertrages zu sichern? Hierzu wurde 2015 zwischen dem Iran und den sogenannten P5+1-Staaten (USA, Großbritannien, Frankreich, Russland, China sowie Deutschland) und der Europäischen Union das Wiener Abkommen geschlossen, das 2018 von den USA gekündigt wurde. Nach dem jetzigen Angriff hat der Iran seinerseits den Atomwaffensperrvertrag gekündigt. Ist die Welt dadurch sicherer geworden? Und was passiert mit den radioaktiven Substanzen aus den zerstörten Nuklearanlagen?

Auch hier scheint unser derzeitiger Bundeskanzler überzeugt, dass markige Äußerungen dem Frieden dienen. Er formuliert in einer Weise, die – gelinde gesagt – jedes diplomatische Fingerspitzengefühl vermissen lässt und normalerweise höchsten unmittelbar vor einem Kriegseintritt verwendet wird. Als Bundeskanzler ist er dem Grundgesetz und dem darin enthaltenen Friedensgebot verpflichtet. Glaubt er, diese martialische Sprache würde nicht nur „viel Feind – viel Ehr“ sondern auch viel Frieden bringen? In der Geschichte hat ein solcher Ansatz selten zu etwas anderem als Krieg geführt.

Wir haben wieder Sommer. Die Menschen genießen die Zeit im Freien, sie besuchen Biergärten, essen Eis oder grillen im Garten. Schaut man sich die Bilder an, könnte man meinen, wir lebten im tiefsten Frieden. Wir müssten uns keinerlei Sorgen machen und niemand müsste für Entspannung, Diplomatie und Abrüstung eintreten. Die Menschen haben sich schon mehr als einmal geirrt.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb Berthold Brecht:

Das große Karthago führte drei Kriege.
Nach dem ersten war es noch mächtig.
Nach dem zweiten war es noch bewohnbar.
Nach dem dritten war es nicht mehr aufzufinden.

Klaus Habel, Juni 2025

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