Unsere Orgel hat ein Problem, so sagte vor wenigen Tagen unser Organist. Ein Register klemmt ständig. Wenn man die Orgel anmacht und das zweite Manual spielt, dann spielt es ständig mit.
Was ist das für ein Register, fragte ich.
Es heißt Vox humana, aber es klingt leider überhaupt nicht schön, es hängt und schnarrt ganz fürchterlich.
Geht es denn gar nicht mehr aus? Fragte ich.
Nein, es spielt ständig mit. Ausgerechnet die Vox humana.
Ach, dachte ich und denke ich. Wenn das kein Zeichen ist. Die Vox humana, die Stimme der Menschlichkeit hängt. Ach wenn sie doch auch im großen Konzert der Stimmen dieser Welt hängen und nicht mehr zu lösen wäre. Wenn sie doch ständig schnarren, schreien, sich erheben würde. Wenn doch Juden und Palästinenser gemeinsam die Menschlichkeit betrauern und beklagen und ihre Stimme für sie erheben würden. Wenn die Hamas die Geiseln frei ließen und die israelische Regierung das Bombardement beenden und die Versorgung der Zivilbevölkerung wieder zuließe.
Wenn das Register der Menschlichkeit so klemmen würde, dass es alle endlich begreifen würden. Wer Menschlichkeit sagt, sagt immer die ganze Wahrheit. Für die Menschen, Männer, Frauen, Kinder auf allen Seiten, die erschossen, gefangen, gefoltert werden. Die hungern und dürsten. Die trauern und um Fassung ringen. Überall sind es Menschen.
Die Vox humana klemmt. Wenn das Register der Menschlichkeit so klemmen würde, dass es sich eben nicht mehr löst, sondern ständig anschlägt und sich meldet und ins Gewissen ruft und redet. Und jeder es begreift, dass egal, ob man Politiker rechts oder links steht, ob man grün wählt oder liberal, ob man zu den Jusos oder zu Jungen Union gehört, ob man sich als Christ versteht, als Jude, als Muslim, ob als Buddhist oder als Atheist, dass die Stimme der Menschlichkeit es ist, die uns verbindet.
Ach möge das Register so klemmen, dass es in den Ohren klingt, schrill und schreit. Und dass Entscheidungen betroffen werden, die diesem Register folgen. Auf allen Seiten. Und wir uns nicht gegenseitig beschuldigen. Oder uns gegenseitig der Blindheit bezichtigen. Oder einander den Blick für die Menschlichkeit absprechen. Wir brauchen Entscheidungen für die Menschen in Gaza. Um auf aller Seite zu stehen.
Soll ich den Orgelbauer mal anrufen, fragte mein Organist.
Aber ich glaube, wir warten wir noch damit. Und er soll morgen das zweite Manual ruhig spielen. Damit wir hören, dass es weiter klemmt, das Register der Menschlichkeit.
Damit es laut bleibt. Damit wir es hören, dass wir sie brauchen, die Stimme der Menschlichkeit. In Gaza und überall.